Kathleen erwachte in einem kargen Kellerraum, eingehüllt in kaltes, gelbliches Licht, das von der nackten Glühbirne in der Mitte der Decke kam. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war Schmerz. Ein grauenvoller, brennender Schmerz. Ihre Wunde am Bauch hatte geblutet, als sie gebissen worden war und von der zerrissenen Schulter hing der klägliche Rest ihres linken Arms in Fetzen herab.
Irgend etwas war passiert, aber sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. Nun war alles taub, obwohl sie wußte, daß das nicht richtig war. Eigentlich müßte sie sich vor Schmerzen winden. Was waren Schmerzen eigentlich?
Wie in Trance richtete sich das Mädchen auf und ging zu der großen Eisentür. Langsam streckte sie die noch vorhandene Hand nach dem schwarzen Griff aus und drückte. Eine Erinnerung sagte ihr, daß man es so machte, wenn man Türen öffnen wollte, aber dieses Wissen begann allmählich zu verblassen. Was waren Türen und was bedeutete öffnen?
Alles war still in dem langen Korridor, den sie nun entlang blickte. Keine Menschen, soweit sie sich an so etwas wie menschliche Wesen erinnern konnte. Sie wußte nicht einmal, was sie war. Einem Gedankenblitz folgend ging sie einfach weiter, verließ den kleinen Raum und suchte einen Weg in die Freiheit. Mit jedem Schritt vergaß sie mehr. Vergaß ihren Namen, ihr Leben und alles, was damit zusammenhing. Einzig und allein das aufkommende Hungergefühl trieb sie an. Sie mußte Nahrung finden, um sich erinnern zu können. Es war das Einzige, was sie noch zu wissen glaubte.
Vor ihr erschien eine Treppe und von oben gelangte Tageslicht in den düsteren Korridor. Draußen hörte sie Schlurfen und Stöhnen - darunter einige Schreie und hin und wieder knallte es. Aufgeregte Stimmen, haßerfüllte Stimmen, ängstliche Stimmen, Stimmen die warnten und solche, die fluchten. Stimmen, die nach Hilfe riefen.
Schritte wurden oben laut und das Mädchen zog sich in die Schatten zurück. Ein letzter Rest menschlicher Angst überkam sie, denn sie wußte, daß etwas Bedrohliches jeden Augenblick die Treppe hinunterkommen würde. Und sie sollte Recht behalten. Ein junger Mann stürzte wild gestikulierend die Stufen hinab, blickte sich panikartig um hielt einen Moment inne, damit er Luft schnappen konnte. Sie roch sein warmes, lebendes Fleisch, sein pulsierendes Blut. Ihr Appetit wurde zu einer fauchenden Flamme des Verlangens. Sie mußte essen, ganz egal, ob man das tat oder nicht.
Lautlos trat sie aus den Schatten. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und bemerkte sie nicht, bis sich ihre Zähne tief in seinen Hals bohrten und ein riesiges Stück Fleisch herausrissen. Vor Schmerz aufschreiend schlug er sie zur Seite und rannte weiter. Dorthin, von wo sie gekommen war - in eine Sackgasse.
Kauend folgte sie ihm. Es schmeckte so gut und je mehr sie davon hinunterschluckte, desto mehr vergaß sie alles um sich herum. Aber sie mußte mehr haben, immer mehr. Nichts war mehr von Bedeutung, nur noch das saftige Fleisch zählte, die köstlich dampfenden Eingeweide, wenn sie aus dem Körper genommen wurden. Ihre letzten bewußten Gedanken galten dem “Warum?”. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum die Toten nicht einfach tot blieben, sondern auf der Suche nach menschlicher Nahrung unterwegs waren. Dann wurde ihr Gehirn leer und nur ein Befehl blieb: Wenn du verstehen willst, suche Fleisch und iß es!
Nun kamen immer mehr Leute die Treppe hinab, die so waren wie sie. Einige grauenvoll verstümmelt, andere einfach nur bleich. Es gab sogar welche, die zu verwesen begonnen hatten, aber sie würden niemals vollständig zerfallen. Nur soweit, als sich das Gewebe gerade noch an den Knochen halten konnte.
Sie alle waren auf der Suche nach Nahrung und es würden jeden Tag mehr werden. Immer mehr und mehr, bis es eines Tages kein warmes Fleisch mehr geben würde. Was kam dann? Gegenseitig würden sie sich niemals essen. Was kam danach? Was?