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Thema: Still, mein schreiendes Herz Sa März 08, 2008 10:25 pm
Das Erste, das er sah als er die Augen aufschlug, war diese undurchdringliche Finsternis. Eine perfekte Schwärze von morbider Reinheit. Und sein erstes Gefühl nach dem Erwachen war Schmerz. Kein körperlicher Schmerz. Nein, seine Seele schien vor Qualen zu schreien. Er wusste ganz genau wo er war und es gefiel ihm keineswegs. Hier war es so eng, so stickig. Die Erinnerung an modrigen Geruch gaukelte seiner Nase vor, er sei noch in der Lage etwas zu riechen. All die Sinneswahrnehmungen bestanden nur mehr aus Erinnerungsfetzen, die seinem Geist Eindrücke vermittelten. Sie gaben ihm zu verstehen, wie es sich anfühlen musste, wenn man knapp zwei Meter tief unter der Erde lag. Eingeschlossen in eine Holzkiste, die seine letzte Ruhestätte hätte sein sollen, versuchte er die Lungen mit Luft zu füllen. Für einen toten Körper nicht mehr als das Ausführen vergangener Gewohnheiten, die nicht so leicht abgelegt werden konnten. Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er, dass über ihm einige Blumen in die Erde gepflanzt worden waren. Sie sollten ihn ehren, ihm bis in alle Ewigkeit Trost spenden. Früher hatte er an den Gräbern derer, die er geliebt hatte, ebenso gehandelt. Tote blieben üblicher Weise tot. Was hier mit ihm gerade geschah, hatte nichts mehr mit dem normalen Lauf der Dinge zu tun. Es war falsch – aber es geschah. Seit einem halben Jahr lag sein Körper schon hier unten. Ein langer Schlaf, aber nicht endgültig. Die Seele war in den verfaulenden Körper zurückgekehrt um ihm die Möglichkeit zu geben, einige Dinge zu richten, die seinen Geist nicht ruhen ließen. Erst dann, wenn alles erledigt war, würde der ewige Schlaf ihm Frieden schenken können. Sechs Monate, in denen er einer anderen Ebene aus hatte mitansehen müssen, wie sinnlos doch sein Tod gewesen war. Wie unsinnig die Entscheidung, noch vor seiner Zeit gehen zu wollen. Aus freien Stücken, durch die eigene Hand. Damals hatte ihn niemand ernst genommen. Sie alle hatten es ihm ausreden, ihn zur Vernunft bringen wollen. Doch eines Nachts, in der die Einsamkeit und der Schmerz einer verlorenen Liebe ihn zu erdrücken drohten, hatte er sämtliche Zweifel mühevoll erstickt und zu einer Rasierklinge gegriffen. Wie schrecklich doch der Schmerz gewesen war, doch er hatte bei weitem nicht die Pein in seinem gebrochenen Herzen übertreffen können. Er dachte an den Blutstrom, der sich aus seinen Handgelenken ergossen hatte. Erinnerte sich an das Gefühl als sein Geist langsam aus dem Körper gewichen war. Warum konnte er nicht einfach weiterschlafen? Hatte es denn niemals ein Ende? Doch. Sobald seine Arbeit getan war, durfte er schlafen und musste niemals wieder zurückkehren. Langsam stieg auch wieder der alte Hass in ihm auf, der für sein Ableben mitverantwortlich gewesen war. Unglaubliche Wut ergriff von ihm Besitz, ließ sein Fleisch wiederkehren, seine Organe, seine Haut. Angetrieben von einer dämonischen Kraft bewegte er langsam seine rechte Hand, ballte sie zur Faust und hämmerte damit gegen den Deckel des Sarges. Bald darauf schloss sich auch die Linke dem beständigen Schlagen an und nach einer Weile hörte er das Holz splittern. Durch das kleine Loch ergoss sich Erde in das Innere der Kiste. Er schrie, tobte. Das Brüllen und Fauchen eines unnatürlichen Wesens drang aus der Erde, doch niemand hörte es auf dem menschenleeren Friedhof. Die Laute klangen nicht menschlich, denn er war kein Mensch mehr. Er war ein Geschöpf der Nacht. Eine Kreatur, die nur von dem Gefühl der Rache angetrieben wurde. Er wollte nur eines: hinaus in die Nacht und diejenigen zu finden, die für alles, was mit ihm geschehen war, verantwortlich waren. Sie sollten langsam sterben. Er würde jeden einzelnen Schrei genießen und jede einzelne Seele, die den dazugehörigen Körper verließ, würde ihn der ewigen Ruhe einen Schritt näher bringen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis sich seine Finger durch den Schlamm gebohrt hatten um die kühle Nachtluft zu erreichen. Es musste ganz einfach Nacht sein, obwohl noch nichts zu erkennen war. In der Vergangenheit war er überzeugt davon gewesen, dass die Toten nur in der Dunkelheit aus ihrem Schlaf erwachen konnten. Immer weiter gruben sich die Hände in Richtung Oberwelt. Er zerriss Würmer und schmeckte Erde in seinem Mund als sich sein Körper nach oben drückte. Endlich ließ der Widerstand an den Fingerspitzen nach und er wusste, dass die Barriere durchbrochen war. Die letzte Grenze zwischen der realen Welt und des Schattenreiches. Die Hand schob sich weiter und erreichte einen harten Gegenstand. Mühevoll begann er damit, sich daran hochzuziehen. Als sein Kopf schließlich das nun lockere Erdreich durchbrach, wurde er von grellem Licht geblendet. Zuerst glaubte die Kreatur es handele sich um starke Scheinwerfer, die aus irgendeinem Grund den Friedhof beleuchteten. Aber bald erkannte er die Wirklichkeit: Es war helllichter Tag. Nachdem sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er die Blumen auf seiner Ruhestätte und den Grabstein. William M. Holding stand dort in goldfarbener, verzierter Schrift. Lediglich eine bedeutungslose Aneinanderreihung von Buchstaben. Für ihn war es nicht mehr wichtig wie er hieß. Racheengel brauchten keine Namen. Sie waren nichts anderes als menschliche Spielereien, einfach uninteressant und lächerlich. Unter den Buchstaben standen Zahlen und Zeichen, die er nicht mehr zu deuten wußte: *1967 +1993. Was immer das auch heißen mochte, diejenigen, die ihn hier besuchten, würden es schon wissen. Er drehte den Kopf in alle Richtungen und sah eine Welt, die vor langer Zeit sein Zuhause gewesen sein musste, aber seine Seele hatte fast alles verdrängt. Besucher aus dem Reich der Toten waren hier nicht willkommen. Sie hatten auf dieser Existenzebene nichts verloren. Die Bäume waren kahl und der Himmel hatte eine graue, trübe Farbe angenommen. Trotz der Kargheit nahm er das Gefühl von Leben wahr, das ihn umgab. All die Pflanzen schliefen nur. Allein seine Anwesenheit war das wahrhaftig Tote weit und breit. Wie hieß doch gleich diese Jahreszeit? War es nun Frühling oder Herbst? Er überlegte angestrengt und kam zu dem Schluss, dass es Herbst sein musste. Diese Jahreszeit hatte er über alles geliebt und da selbst jetzt ein Hauch von Romantik in ihm aufstieg und seinen kalten Körper zu wärmen versuchte, konnte alles andere ausgeschlossen werden. Direkt vor ihm lag eine welke Rose und ein Brief. Er nahm mit steifen Fingern die Blume und schaute sie eingehend an. Dann griff der Leichnam nach dem Kuvert und versuchte es aufzureißen. Es war schwierig, aber er schaffte es. Seine Seele bemühte sich, die Buchstaben auf dem darin befindlichen Blatt Papier zu deuten:
Ich vermisse dich, William. Du wirst diese Zeilen niemals lesen können, aber ich musste sie einfach schreiben. Vielleicht kannst Du sie dort, wo Du nun bist, doch sehen. Mir ist nach all der Zeit vieles klar geworden. Ich war vielleicht zu blind um Dich wirklich zu sehen, um dich verstehen zu können. Ich weiß, Du meintest es nur gut. Wir hatten eine so wunderbare Zeit. Eine Freundschaft, die mir viel, sehr viel bedeutet hatte, auch wenn es am Ende anders ausgesehen haben mochte. Damals brauchte ich einfach meine Freiheit, war verwöhnt und egoistisch. Ich habe zu spät erkannt, dass Du mich wirklich und ehrlich geliebt hast. Jetzt ist alles vorbei und ich kann Dir nur noch in diesem Brief mitteilen, wie sehr Du mir fehlst. Ich habe gelernt und ich habe verstanden. Du warst verletzt, gekränkt und ich hatte kein Mitgefühl, spielte mit Deiner Liebe. Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir. Seitdem Du gegangen bist, ist mein Leben kalt und leer. Ich werde Dich bald besuchen können, da ich mit dieser Schuld nicht mehr weiterleben kann. Finde Deine verdiente Ruhe und sollten wir uns in Deiner Welt nicht wiedersehen, möchte ich Dich wissen lassen, dass ich Dich trotz allem geliebt habe. In Liebe Clarissa! Smallhill, 10-20-1995
Er zerknüllte das Blatt und schluchzte, aber es glich mehr einem tiefen Röcheln. Seine Augen wurden trübe. Er glaubte salzige Tränen zu riechen, die ihm über die bleichen Wangen rannen. Clarissa. Was war mit ihr? Der Brief konnte noch nicht so alt sein. Sie schrieb von ihrem Ende. Wollte sie sich etwa selbst töten, so wie er es getan hatte? Nein, das durfte nicht sein. Seine Erinnerungen reisten weit zurück und er sah sie vor sich. Sah, wie sie ihn liebevoll ansah, wie sie ihn anlächelte, ihm das Gefühl gab, gebraucht zu werden. Oh ja, er hatte sie geliebt. Sie und keine andere, aber Clarissa hatte ihn nicht verstanden, hatte ihn ausgenutzt und belogen. Ihretwegen war er zurückgekommen. Ihretwegen hatte er den Ort verlassen, an den sie ihn verbannt hatte. Ihretwegen und wegen diesem falschen Freund, der sich zwischen ihn und Clarissa gestellt hatte. Ein arroganter Fiesling, verdorben bis ins Mark und unehrlich. Dumm und eitel, obwohl er nichts hatte bieten können. Ein Blender, dem es nicht einmal Spaß bereitete, wenn er Menschen verletzte, weil ihm selbst zu einer solchen Genugtuung der Verstand fehlte. Ungehobelt. Unfähig Liebe zu geben und zu empfinden, sofern es sich nicht um bloße körperliche Lust handelte. Der Rückkehrer hatte sich an ihm und ihr Rächen wollen, aber nun entschied er, dass es wohl keine wirkliche Lösung sein konnte. Nicht, nachdem er diese Zeilen gelesen hatte. Der Brief offenbarte ihm Clarissas wahre Gefühle. Also hatte er ihr doch etwas bedeutet. Sie durfte nicht sterben, nicht so. Seine Seele sollte Ruhe finden, aber wenn sie sich selbst etwas antat, obwohl sie Reue gezeigt hatte, würde das für alle Ewigkeit unmöglich sein. Clarissa musste am Leben bleiben, sie musste wissen, dass er ihr verzeihen konnte. Ron würde sterben, daran führte kein Weg vorbei. Der Judas, der sich in sein Leben geschlichen hatte damals, durfte nicht ungeschoren davonkommen. Sein Hass auf diesen abscheulichen Idioten war so stark wie nie zuvor. Warum hatte Ron nicht auf das Mädchen aufgepasst? War sie ihm etwa schon langweilig geworden? Sein letzter Gedanke als Sterbender hatte den beiden Menschen gegolten, die ihm die Möglichkeit genommen hatten, mit dem Dasein an sich fertig zu werden. Sie hatten ihn beraubt, hatten ihm die Fähigkeit zu lieben gestohlen und nun sollte der Initiator dieser Diebestour teuer dafür bezahlen. Im Gegensatz zu den typischen Zombie-Filmen, die er früher regelrecht verschlungen hatte, konnte sich William nach einer Weile wieder recht normal bewegen. Seine Schultern hingen nicht schlaff herab und er hatte auch nicht diesen seltsam schleppenden Gang. Weder Stöhnen, noch Röcheln drangen aus seiner Kehle. Er sabberte nicht und er hatte auch keine Lust auf Menschenfleisch. Seine Seele sagte ihm, dass dies ja auch die Realität sei und keine Fiktion einiger phantasiebegabter Regiesseure. Er bemerkte den langen dunkelgrauen Mantel, der seine Gestalt einhüllte und die restliche Kleidung, in der er nicht beerdigt worden war. Ihm war es vollkommen egal, wie so etwas möglich sein konnte. William sah nicht aus wie ein wandelnder Leichnam, sondern glich dem Tod höchstpersönlich. Eine menschenähnliche Manifestation des Sensenmanns, der sich auf die Suche nach neuen Seelen machte. Der Friedhof lag außerhalb der kleinen Stadt und es würde ein langer Fußmarsch werden, doch William erinnerte sich immer wieder daran, dass er sich beeilen musste. Der Brief konnte noch nicht sehr lange an seinem Grab gelegen haben, so war seine Liebste noch nicht verloren. Er spürte es. Clarissa hatte es nicht verdient, auf diese Weise zu sterben. Nicht, nachdem sie ihre Schuld eingesehen und ihn nachträglich um Vergebung gebeten hatte. Hätte er sie überhaupt töten können, auch ohne diesen Brief? Er zweifelte daran, denn seine Liebe zu ihr war stärker als die Wut in den eigenen blutleeren Adern.. Wie erwartet war das Tor nicht verschlossen. Hier gab es keine Vandalen, die Gräber schändeten. Er sah noch einmal zurück und entdeckte ein Grab, an dem er viele Nächte verbracht hatte, an dem er unzählige Tränen vergossen hatte. Dort drüben, nahe der blattlosen Weide, lag seine Mutter, die ihn nach der Geburt hatte verlassen müssen. Zuerst dachte William einen kurzen Augenblick darüber nach umzukehren und einen Augenblick bei dem verwitterten Gedenkstein zu verweilen. Einfach nur um sich in seinen alten Träumen zu verlieren, aber die Angst um Clarissa hielt ihn davon ab. Seltsam, es waren weder Autos, noch Menschen unterwegs. Alles schien so verlassen, einfach unwirklich. Die Straße schlängelte sich einsam nach Westen und in der Ferne konnte man die ersten Häuser erkennen. Clarissa wohnte am anderen Ende der Stadt, doch er hatte keine Angst von irgend jemandem gesehen zu werden. William wusste, dass heute alle Menschen in ihren Wohnungen bleiben würden und selbst nicht den Grund dafür kannten. Vielleicht lag es an dem seltsamen Geruch in der Luft. Nein, das war kein Geruch, es handelte sich eher um die Atmosphäre. Sie verbreitete Trauer, Schwermut und Furcht. Furcht vor dem, der kommen und sich an den Schuldigen rächen würde.