Kennen Sie die Situationen, in denen Sie nicht wissen, was Traum und was Wirklichkeit ist? Standen Sie jemals in der Nacht auf, weil Sie glaubten ein Geräusch gehört zu haben, das Ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ? Haben Sie je das Gefühl gehabt, ein unsichtbarer Besucher würde Sie aus dem Wandschrank heraus betrachten, während Sie zitternd in Ihrem Bett liegen, die Decke bis zum Kinn hochgezogen? Und glauben Sie manchmal, ein gräßliches Monster würde unter ihrem Bett liegen, darauf wartend, Sie im Schlaf zu überraschen und aufzufressen?
Haben Sie Angst? Haben Sie Angst vor Träumen - und dem Sandmann?
Nein? Dann sollten Sie diese Angst schnellstens lernen. Ich versichere Ihnen, er wird auch Sie eines Tages aufsuchen, Ihnen Sand in die Augen streuen und Ihren Glauben an das Gute in der Welt zerstören. Er wird leise in Ihr Schlafzimmer schleichen, seinen Beutel auspacken und die Saat des Bösen unter Ihre Lider säen, ohne daß Sie es merken.
Ich weiß, wovon ich spreche. Mich hat er auch besucht und ich weiß, daß es nichts gibt, was ihn aufhalten könnte. Er ist die Essenz des Schlechten, ein Abtrünniger der Hoffnung.
Ihre Kinder sollten sich in Acht nehmen; Sie sollten sich in Acht nehmen. Die düsteren, schlechten Träume kennt jeder von uns und wir alle fürchten sie, aber die süßen Träume aus seiner Hand sind klebrig und stinken. Die sind es, die uns alle verderben werden. Sie fangen uns ein, umgeben unsere Seele mit einem festen Netz aus dünnen Honigfäden, in dem der Geist festsitzt - wie eine Fliege im Fliegenfänger.
Glauben Sie mir. Ich kenne den Sandmann und wünschte, ich wäre ihm niemals begegnet.
An einem kalten Novembertag ging ich zur Arbeit, so wie jeden Tag. Ich sah die Leute, die ich immer gesehen hatte, seitdem ich in dieser Stadt lebte. Einige von ihnen waren mir persönlich bekannt. Sie grüßten mich, fragten mich einige belanglose Dinge, auf die ich ebenso belanglos antwortete und wir setzten nach einer knappen, unsinnigen und nichtssagenden Unterhaltung schließlich unseren Weg fort.
Andere waren namenlose Gestalten, die aber dennoch zum gewöhnlichen Leben dazugehörten. Der dicke Mann mit der Zigarre, die er niemals aus dem Mund zu nehmen schien und der ständig den Sportteil aus seiner neuen Zeitung riß, um ihn in den Papierkorb an der Bushaltestelle zu werfen. Die junge Frau mit den tristen Kleidern und der scheußlichen Brille - Utensilien, die sie als graue Maus abstempelten. Der schleimige Yuppie mit seinem Aktenkoffer und dem Handy, ohne das er wahrscheinlich nicht leben konnte. Das Mädchen mit dem Kopfhörer, aus dem schrecklich laute Musik drang - sie hatte vermutlich längst einen Gehörschaden.
Sie alle gehörten dazu. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft, obwohl wir nie miteinander sprachen. Man wünschte sich keinen guten Morgen, noch tauschte man übliche Höflichkeitsfloskeln.
Als ich neu in die Stadt gekommen war und zum ersten Mal mit dem Bus zu meiner Arbeitsstelle fuhr, zu dem kleinen Gebäude in der Innenstadt, das neben dem Bürokomplex von insgesamt vier Räumen auch noch einen Laden für Computerartikel und eine kleine Reparaturwerkstatt für Radios und Fernsehgeräte beherbergte, wurde ich als Eindringling in die Haltestellenbevölkerung angesehen. Sie alle starrten mich unverhohlen an, ließen mich ihre Abneigung gegenüber dem Neuling spüren und machten keinen Hehl daraus, daß ihnen frisches Blut gewaltig stank.
Obwohl keiner von ihnen auch nur ein Wort zu mir gesagt hatte, so las ich ihren Widerwillen, sich damit abzufinden, daß es Zuwachs gegeben hatte, doch deutlich in den auf mich gerichteten Augenpaaren ab.
“Was glaubst du, wer du bist? Du gehörst nicht dazu”, stand darin und “verschwinde, hier ist es voll genug. Wir brauchen dich nicht.”
Trotzdem nahm ich den Kampf um meinen Platz an der Haltestelle auf. Mit aller Kraft verdrängte ich die Blicke, die sich mir in die Brust bohrten, wenn ich kam und die mir schwer in den Rücken stießen, wenn ich als Erster in den Bus einstieg. Sie ließen mich in den ersten Wochen immer vorangehen, obwohl ich ständig als Letzter kam. Vielleicht wollten sie mich zuerst eingehend studieren, denn die Brut merkte, daß ich stark genug war, um ihnen die Stirn zu bieten. Sie suchten nach einer Schwachstelle, ließen mich als Außenseiter auftreten.
Doch schließlich gaben die Leute, die den Bus als ihren Himmelswagen betrachten mochten, auf und akzeptierten meine Anwesenheit. Mit der Zeit ließen die Blicke nach und ich verwuchs mit dem Stamm der Busanbeter, fügte mich in die stumme Übereinkunft ein, keinen weiteren Neuzugang zu dulden - und sei es mit psychischer Gewalt.
Fortan waren wir fünf so unterschiedlichen Gestalten die Hüter der Bushaltestelle in der 3. Straße. Schweigend traten wir um Punkt acht Uhr unseren Dienst an, warteten auf den, der da kommen mochte. Auf den EINEN, der uns zu einem anderen Ort bringen würde.
Schweigend, bewachend und dennoch unauffällig. Ab und an waren kurzfristig Fremde am Orakel zu sehen, die jedoch nie ein zweites Mal auftauchten. Das erkannten wir sofort und ich verstand, warum die anderen gerade mich zu Anfang so kalt abgewiesen hatten. Es war ihnen nur allzu klar gewesen, daß ich nicht nur einmal auftauchen würde, sondern immer und immer wieder. Man sah es den Menschen an, ob sie nur Durchreisende waren oder Dauergäste werden wollten.
Die Prüfungen waren hart und wir machten es niemandem leicht. Ich erinnere mich an den Tag, als ein Junge mit bunter Schultasche zu uns gestoßen war. Wir kannten ihn nicht, hatten ihn nie zuvor gesehen - und doch wußten wir, daß er sich zu unserem Zirkel gesellen wollte.
Für andere Leute unauffällig, nicht zu erkennen, durchbohrten unsere Blicke die Seele des Kleinen, drangen in ihre Tiefen ein und rissen daran. Wir versuchten dem Unerwünschten mentale Qualen zu bereiten.
Wir, die Ritter des Innenstadtbusses, die Wächter der alten, grünen Bank, schlugen den Feind in die Flucht.
Nie sah uns der Junge direkt an; er mußte jedoch unseren unnachgiebigen Haß brennend in seinem Inneren fühlen, wie er wütete, seinen Geist zerfraß.
Schließlich gab er am dritten Tag seiner Prüfung auf und suchte sich eine andere Haltestelle. Ich werde diesen Morgen nie vergessen. Wie er dastand, die Tasche vor sich auf dem Boden und immer nervöser werdend. Mit einer Hand hatte er den Schweiß von der Stirn gewischt, obwohl es bitterkalt war und mit der anderen fuchtelte er unbeholfen in der Gegend herum. Steckte sie in die Hosentasche, zog sie nach Sekunden wieder heraus, kratzte sich hier und da, schlug einen ungenauen Takt auf seinem Schenkel.
Dann die Flucht.
Kurz bevor der Bus kam schnappte er sein Bündel und lief, wie vom Teufel gehetzt, die Straße hinunter, um sich die nächste Haltestelle zu suchen, an der man ihn sicherlich freundlicher aufnehmen würde.
Sieg. Wir hatten ihn absolut und gründlich besiegt, seinen Willen gebrochen und ihm den Glauben an eine normale Welt geraubt.
Jeden von uns durchströmte ungeheuerliche Freude, Erleichterung. Ich dachte damals, so müßte sich jemand fühlen, dem man in letzter Sekunde das Leben gerettet hatte.
Wie schon erwähnt, bis zu diesem Novembermorgen war alles ganz normal, bis...
Tja, bis das ungeschriebene Gesetz des Schweigens gebrochen wurde. Und zwar von mir. Ich allein war der Schänder der Stille gewesen, indem ich einfach ein gutgelauntes “Guten Morgen” meinen Mitwächtern entgegengeschleudert hatte.
Es schlug ein wie eine Bombe. Alle vier wandten mir ihre Köpfe zu und betrachteten mich erstaunt, ja, beinahe entsetzt. Blasphemie. Roger W. Jameson hatte das Gelübde mit den Füßen getreten und alles zerstört, was sich die Wächter in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatten. Zwei Worte des Grußes stießen den heiligen Gral vom Berge der Erhabenheit. Ausgesprochen in Unvernunft hingen sie schwer über den Häuptern meiner Gemeinschaftsmitglieder, ähnlich sommerlicher Gewitterwolken. Hinausgebrüllt von einer tiefen, männlichen Stimme zerstörten sie die Mauer des geruhsamen Schweigens. Die Stille zerbarst.
Die graue Maus schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Der dicke Zigarrenfan ließ den zusammengeknüllten Sportteil einfach auf den Boden fallen. Der Yuppie reagierte nicht auf das nervtötende Piepen seines Telefons. Die Musikfanatikerin machte ihren Walkman aus und lauschte.
Nun war alles vorbei. Atlantis war in den Fluten versunken und würde nie wieder auftauchen.
Ich spürte, wie mir Schamesröte ins Gesicht schoß und glaubte fest daran, daß ich nun auf die anderen einen seltsamen Eindruck machte. Mit dem hochroten Tomatenkopf stand ich vor ihnen, konnte meinen Blick nicht senken, sondern starrte jeden einzelnen so vertieft an, wie sie es auch mit mir taten.
Welche Schande hatte ich über die Kultstätte gebracht? Oh Schmach der ungestümen Worte. Ich wäre am liebsten auf der Stelle im Erdboden versunken und genau dorthin wünschten mich auch die restlichen Genossen und Genossinnen, die mir imaginäre Blitze entgegenschleuderten.
Dabei war es doch gar nicht meine Schuld, jedenfalls nicht direkt. In der vorhergehenden Nacht hatten mich schreckliche, widerwärtige Alpträume geplagt, hatten mich des erholsamen Schlafes beraubt und meine Sinne vergiftet. Träume von unglaublicher Tiefe, als seien sie keineswegs pure Ausgeburten der Phantasie, sondern warnende Vorzeichen, die auf eine alles andere als rosige Zukunft hindeuten wollten.
Träume, in denen ich hilflos dastand, während mein zweites Ich mordete und vergewaltigte. Unfähig den bösartigen Zwilling zurückzuhalten, tötete dieser mit meinem Gesicht, mit meinem Körper und natürlich mit meinen Fingerabdrücken unschuldige Menschen. Er stürzte sich auf die Armen wie ein wildes Tier, dessen Zorn und Schlechtigkeit selbst den schlimmsten wahnsinnigen Massenmörder übertrafen.
Einige Opfer wurden mit bloßen Händen in Stücke gerissen, andere starben unter einem Kugelhagel und wieder andere verbluteten, während riesige Hieb- und Stichwunden ihren Körper verunstalteten.
Nach dem Aufwachen war ich so glücklich über den Umstand, daß es sich lediglich um einen schlimmen Traum gehandelt hatte, daß ich einfach mehr als gut gelaunt aus dem Haus gegangen war. Ich wollte den Tag zu einem feierlichen Augenblick machen, wollte überaus höflich und mit allen Leuten wohlgesinnt mein Leben führen. Als guter Christ, der ich zu dieser Zeit war, erschien mir dieser Traum als Botschaft, als Warnung, meine Wesensart schnellstens zu ändern. Nicht länger durfte ich einer der stummen, tatenlosen Zeugen sein, sondern das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Beim Rasieren vor dem Badezimmerspiegel konnte ich beinahe den kleinen Heiligenschein sehen, der sich über meinem Kopf bildete. Wäre ich nicht meinen Wohlstand gewöhnt gewesen - ich war nicht reich, aber das bezogene Gehalt überschritt das Durchschnittseinkommen der meisten Menschen in der Stadt und erlaubte mir ein weitaus besseres Leben -, so hätte ich noch an diesem einen Morgen mein Bündel gepackt, um in ein Kloster einzutreten, irgendwo in Europa.
Doch fernab vom friedlichen Leben der Mönche, im Einklang mit Gott und der Welt, stand ich hier, vor den vier Menschen, denen ich die kleine Freude geraubt hatte, anders zu sein, etwas Besonderes auszudrücken. Unser Schweigen konnte ein Protest gegen die sinnlos vor sich hinplappernde Gesellschaft gewesen sein. Oder eine Auflehnung gegen nicht ernst gemeinte Höflichkeitsfloskeln. Vielleicht auch die Ruhe vor dem Sturm der tosenden Stadt oder ganz simpel: Keine Lust auf Konversation.
Wie auch immer, jetzt war es ohnehin vorbei.
So dachten auch meine Ex-Verbündeten, denn ganz sacht, beinahe viel zu leise, um es hören zu können, erreichte ein piepsiges “Morgen” mein Ohr. Nicht bösartig ausgesprochen, vielmehr schüchtern und äußerst zurückhaltend. Da ich die kleine Gruppe noch immer betrachtete und die Lippenbewegungen dieser Person sah, vernahm ich das Gesprochene, wenn auch nicht direkt akustisch, sondern eher optisch.
Es war die graue Maus gewesen. Sie stand da, die Hände fest um ihre altmodische Handtasche gekrallt und formte mit ihren farblosen Lippen die Buchstaben der Verdammnis. Doch ihr Mut kam sie teuer zu stehen. Der Zigarrenmann warf ihr einen Blick zu, der die Hölle hätte gefrieren lassen können. Gleich darauf senkte Ms. Maus auch ihr Haupt und betrachte ihre abscheulichen Schuhe, vermutlich hergestellt anno 1910.
Als sich Walkman und Handy der mutigen Schüchternheit anschlossen, gab Qualmschlund seinen einsamen Kampf ebenfalls auf und stieß mir einen brummigen Morgengruß mitten in die Eingeweide, daß mir schwindelig wurde. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle übergeben. Nun wich die Röte einer krankhaften Blässe. Ich war nicht mehr länger Roger die Tomate, sondern Roger der wandelnde Leichnam.
Soviel zum Beginn des neuen Lebens als Heiliger, dachte ich bei mir. Es würde nicht einmal mehr zum Märtyrer reichen. Schade eigentlich.
An diesem Morgen dachte ich nicht mehr an die Sandkörner, die ich mir aus den Augen gerieben hatte, nachdem ich aufgewacht war.
Die weiteren Tage verliefen ohne nennenswerte Zwischenfälle, sah man von dem zertrümmerten Tempel des Schweigens an der Bushaltestelle ab. Im Gegenteil, ich sah die Welt in allen Farben erstrahlen, obwohl es Herbst war und man nicht von einer fröhlich bunten Jahreszeit sprechen konnte. Jeder Tag wartete mit neuen Überraschungen auf. Ich erkannte Dinge, von denen ich niemals Kenntnis genommen hätte, wären mir nicht die Augen geöffnet worden. Und jeden Morgen hatte ich ein wenig mehr Sand aus den verschlafenen Sehwerkzeugen zu wischen.
Nach gut zwei Wochen fing ich endlich an, mir Gedanken zu machen. Mir erschien der eingetretene Umstand sinnenfroher Freude nicht ganz normal. Zuerst diese Wandlung meines Wesens - ich war zuvor ein eher unscheinbarer Bürger gewesen, hatte mich jedoch mehr und mehr zum Partylöwen und guten Geist der Hilfsbedürftigen entpuppt, der den langsam ansteigenden Bekanntheitsgrad genoß und sogar danach dürstete - und dann die feinen Sandkörner auf meinem Kopfkissen.
Trotzdem verschwendete ich nicht allzuviele Gedanken daran. Aber ich beschloß, den Sand in einem kleinen Schuhkarton zu sammeln. Gott allein wußte, warum mir dieser Einfall gekommen war.
Mit jedem neuen Tagesanbruch klarte sich die Sicht mehr und mehr auf.. Ich erkannte nicht nur die schönen Dinge, sondern stellte fest, daß es auch unzählige Schatten in dieser Stadt gab. Menschen, deren Aura nicht bunt schimmerte. Sie wurde von einem schwarzen oder grauen Vorhang fast vollständig verhüllt. Von diesen Typen hielt ich mich fern, soweit es möglich war. Leider gehörten auch einige meiner Freunde zu den Dunklen, wie ich sie zu nennen pflegte. Einige meiner besten Freunde - und Anne, meine Verlobte.
Sie umschwirrten mich wie finstere Geister und redeten ständig auf mich ein, gaben mir gute Ratschläge, was für mich besser wäre und was ich zu meinem eigenen Wohle unterlassen sollte. Mit der Zeit begriff ich, daß die gutgemeinten Ratschläge nichts anderes waren als Versuche von den Dunklen, mich unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie wollten mich formen und zu einem der ihren machen.
Natürlich hatten sich nicht gleich alle Menschen als Wesen mit finsterer Aura entpuppt. Es war ein langsam voranschreitender Prozeß gewesen. Die Farben wurden dunkler und dunkler. Erst lila, dann dunkelblau, wieder ein etwas helleres Grau, das jedoch bald zum schrecklichen Schwarz wurde. Sie wollten mich beherrschen.
Von welcher Macht sie angetrieben werden, entzieht sich bis heute meiner Kenntnis, aber sie sind da und es werden immer mehr. Vermutlich wissen die Dunklen selbst nicht, wer oder was sie sind. Ich war nie ein leichtgläubiger Anhänger von fadenscheinigen UFO-Theorien und bin es auch jetzt nicht. Die Wesen mit der nachtschwarzen Aura sind ganz normale Menschen, die sich unbewußt der Kraft des Bösen ausliefern. Sie denken nicht daran, daß es so etwas überhaupt gibt. Sie leben einfach so, wie sie es immer schon getan haben - immerhin denken sie das.