Muno-Ak platzte schier vor Neugierde. Er beobachtete mich genau, sah das Grinsen des Herzogs und fragte oft genug, dass es einem auf den Geist gehen konnte: „Wen rufst du da? Häh? Wen rufst du? WEN?“
Da er es ohnehin gleich erfahren würde, war nun wohl die Zeit gekommen, ihm das Schreckliche, das Unfassbare zu offenbaren: „Ich beschwöre deine Schwiegermutter, die Herrin der unbewohnten Gräber.“
„Das tust du mir nicht an, Dämonenjäger! DAS wagst du nicht!“
In seinem, oder besser gesagt in Maries Gesicht spiegelten sich Abschau und blankes Entsetzen. Eines verband wohl alle männlichen Wesen auf, unter und jenseits der Welt: Die Furcht vor der Mutter der Angetrauten. Im Dämonenreich gaben meist Frauen den Ton an, auch wenn sie nur selten selbst in Erscheinung traten. Männer waren für die Drecksarbeit zuständig. Nun, nicht dass es unter uns Lebenden anders zuginge, aber das gehört nicht hierher.
Kaum war das letzte Wort der Formel über meine Lippen gekommen, da stand sie bereits im Zimmer und bedachte ihren Schwiegersohn mit einem eisigen Blick. Sie war atemberaubend schön, wenn man sich mit hellblauer Haut und den zwei gewaltigen Hörnern auf der Stirn erst einmal abfand. Aber der Rest könnte durchaus seinen Platz in einem meiner heiß geliebten Hochglanzmagazine finden.
„Muno, du bist wohl der unfähigste Dämon, dem ich meine Tochter anvertrauen konnte. Hast du denn überhaupt keinen Anstand mehr? Dringt in den Körper einer Untoten ein. Wie dumm muss man eigentlich sein? Ich sollte dich da drinnen verrotten lassen, aber meiner Tochter würde es das Herz brechen - was die an dir findet, werde ich nie verstehen.“
Die Dämonin schnaubte und stieß dabei gelblichen Qualm aus. Mit der Fußspitze hämmerte sie unruhig auf den Boden und auch ihr Schweif peitschte hin und her.
„Du verlässt sofort diesen Vampir und kommst mit mir nach Hause!“
Sie hielt einen Augenblick inne, aber nur um den Gnadenstoß ein wenig hinauszuzögern: „Wenn du nicht in drei Sekunden vor mir stehst, in all deiner Hässlichkeit, dann hole ich ... deine MUTTER!“
Bamm! Das hatte gesessen. Bei dieser geballten Ladung weiblicher Präsenz hätte sogar der Teufel die Flucht ergriffen. Warum also sollte Muno-Ak einfach so daliegen? Seine Reaktion war verständlich, wenn auch nicht in dieser Art von mir beabsichtigt. Statt Maries Körper zu verlassen, benutzte er das Gefäß aus kaltem Fleisch zur Flucht.
Blitzschnell sprang er aus dem Bett und hechtete durch das geschlossene Fenster in die Nacht. Noch während die Scherben in der Luft einen lustigen Tanz aufführten, stand ich bereits an der zerbrochenen Scheibe und starrte in das Dunkel eines Wäldchens, das den fliehenden Dämonen verschluckte.
In den Schatten gab es genügend Verstecke, solange die Nacht anhielt. Bei Sonnenaufgang würde das anders aussehen. Gab es in der Nähe eine Gruft oder eine Höhle, musste er sich dorthin zurückziehen. Wie dämlich sich Muno-Ak auch anstellte, lebensmüde war er nicht - in diesem Fall hätte er gleich hierbleiben können, in der Nähe seiner Schwiegermutter.
„Verdammter Mist“, stieß ich einen Fluch aus und nahm sogleich die Verfolgung auf. Herzog von Liechen blieb bei der Dämonin, die durfte nicht ohne Aufsicht bleiben. Biester wie sie hatten die Angewohnheit, den größten Blödsinn anzustellen, überließ man sie nach der Beschwörung sich selbst.
Kaum lag das Haus einige Meter hinter mir, drangen aus dem Wald auch schon gellende Schreie. Ich folgte den Stimmen, die ganz offensichtlich Jugendlichen zuzuschreiben waren. Ein Junge und ein Mädchen, natürlich auf verbotenem Terrain unterwegs, wie es sich gehörte. Warum musste jedes größere Anwesen über einen eigenen Wald verfügen, in dem sich junge Menschen zu Paarungszwecken verabredeten? Gab es da etwa ein absurdes Naturgesetz? Ein unbedingtes Muss, um dem Dämonenjäger immer und immer wieder zu beweisen, dass seine Arbeit grundsätzlich unschuldige Opfer forderte?
In all den Jahren hatte ich keinen Auftrag abschließen können, ohne dass mindestens ein Mensch zu Schaden gekommen wäre. Objektiv betrachtet kein schlechter Schnitt, denn viele meiner Konkurrenten waren für die Ausrottung ganzer Dörfer verantwortlich. Stümperei!
Selbstredend peitschten mir Äste ins Gesicht, während dichtes Gestrüpp ein rasches Vorankommen unmöglich machten. Wenn sich hier tatsächlich ein Pärchen verabredet hatte, um den besonderen Kick beim ersten Mal zu genießen, bezahlten sie einen hohen Preis für ihre Albernheit. Unfassbar, wo Jugendliche heutzutage ihrer Liebe frönten: auf Friedhöfen, in Abwasserkanälen, auf fremdem Grund und Boden. Bei Gott, gab es denn keine Rücksitze mehr in den Autos?
Endlich wurden zwei am Boden liegende Körper sichtbar. Reglos. Ich war also auf der richtigen Spur. Ich brauchte mich nicht um sie zu kümmern, Muno-Ak hatte sie beide ausgesaugt, um seinem Vampirkörper neue Kraft zu geben. Beide mochten nicht älter als sechzehn Jahre gewesen sein. Ein Jammer, wie sie mit weit geöffneten Mündern und starren Augen auf ihre Wiedergeburt warteten. So Leid es mir tat, ich nahm mir die Zeit, das rothaarige Mädchen und den blonden Jungen zu pfählen. Früher oder später wären sie ja doch durch meine Hand gestorben. So richteten sie zumindest keinen Schaden mehr an und konnten unbekümmert vor ihren Schöpfer treten.
Weiter ging es. Ohne Rücksicht auf die etlichen Kratzer, die mir gemeines Holz zufügte, folgte ich einer Spur, die mehr einem Gefühl als sichtbaren Tatsachen entsprang. Die an schwaches Licht gewöhnten Augen ließen mich sicher einen Weg finden, bis ich abrupt gegen eine steinerne Mauer krachte. Etwas benommen fummelten meine Hände an dem Hindernis herum, obwohl ich die Antwort längst kannte: Hier also endete das Territorium des Herzogs.
Nach kurzer Analyse der unebenen Fläche begann ich geschickt, das Mauerwerk zu erklimmen. Wenn zwei Kinder es geschafft hatten, auf diesem Weg das Anwesen zu betreten, sollte mir die Sache erst recht nicht schwerfallen.
Tatsächlich fanden Hände und Füße Halt im Überfluss und nach einigen Sekunden stand ich auf der anderen Seite. Vor mir das Lichtermeer der Stadt, zu meiner Linken ein kleines, geöffnetes Tor, das mich höhnisch anzugrinsen schien.
„Muno-Ak“, schrie ich zornig über den Zufall, der mir allzu gern ins Handwerk pfuschte und mein Leben unnötig erschwerte. „Stell dich, dann schicke ich dich dahin, wo du dich wieder erholen kannst. Ist doch ein faires Angebot.“
„Leck mich, du Idiot!“
Etwas weiter die Straße hinunter rannte Muno-Ak, drehte sich kurz um und zeigte mir Maries Mittelfinger.
Bösartigkeiten waren Dämonen in die schwarze Seele gebrannt, damit konnte ich leben, aber bei Frechheiten hörte der Spaß auf. Nicht genug, dass mich ein Vampir engagiert hatte. Nein, ich durfte zudem einen feigen Dämonen verfolgen, der seinen Wirtskörper besser im Bett gelassen hätte, wo man ihn kontrollieren konnte.
„Wenn ich dich erwische, prügel ich dich windelweich“, plärrte ich durch die Nacht. Einige Passanten - womöglich Touristen, die sich ganz gehörig in der Gegend verlaufen hatten - blickten mich schockiert an. Sie wussten ja nicht, dass die Frau, die vor mir davonlief, ein besessener Vampir war. Einer der beiden Spaziergänger, ein Mann mit Halbglatze und preußisch-korrektem Gesichtsausdruck, griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer. Die Polizei? Natürlich, man musste ja den scheinbar Hilflosen beistehen, den vermeintlichen Opfern ungestümer Manneskraft. Auch wenn sie einem bei nächstbester Gelegenheit das Blut aus den Adern saugen würden.
„Nein, das werden Sie nicht tun. Stecken Sie Ihr Telefon ein und kümmern Sie sich um ihren eigenen Kram. Ich bin nicht in der Stimmung, mich mit irgendwelchen Polizisten auseinanderzusetzen.“
Mein guter Ratschlag zeigte abrupt die gewünschte Wirkung. Der Mann schaute mir verdutzt ins Gesicht, dann auf die geballten Fäuste und er erkannte, dass ich es wirklich, wirklich ernst meinte. Schnell vergaß er den kurzen Anflug von Zivilcourage und verstaute das kleine Mobiltelefon wieder in der Hosentasche.
Nun hieß es, keine Zeit zu verlieren, denn schon kreischte ein weiteres Menschlein um Hilfe. Muno-Ak hatte sich einen jungen Mann geschnappt und hielt ihn wie einen Schutzschild vor seine Brust. Der Gefangene wehrte sich verzweifelt, konnte aber nur mit einem Arm um sich schlagen. Auf der linken Seite baumelte die andere Hand hin und her. Bei dem Gedanken, wie viele Knochen zu Bruch gegangen waren, wurde mir beinahe übel. In die Enge getriebene Höllenwesen reagierten äußerst brutal.
Und sie griffen nach jedem Strohhalm. Was Munos Aktion bezwecken sollte, blieb mir ein Rätsel. Nie im Leben hätte ich auf ihn geschossen. Jedenfalls nicht mit einer normalen Pistole. Und schon gar nicht, solange er sich in einem fremden Körper befand, den man nicht für Muno-Aks Taten verantwortlich machen konnte.
Ich musste handeln, selbst wenn der Junge dabei draufgehen sollte. Eigentlich nicht der cleverste Einfall, aber verschwand der Dämon erst einmal in der Stadt, würde er dort ein Blutbad anrichten. Erstens schadeten beinahe entmenschlichte Städte meinem Ruf und dann war da noch der Herzog. Vampire an sich stellten keine größeren Probleme dar. Die erledigte einer wie ich im Vorübergehen. Bei angepissten Vampiren, die ihren Partner durch meine Hand verloren, sah die Sache schon anders aus. Etliche Narben an meinem Körper legten davon allzu deutlich Zeugnis ab.
„Hey, wir können doch darüber reden. Lass den Jungen los und wir unterhalten uns mal über dieses ... Missgeschick.“
Um die Ehrlichkeit meiner Worte sichtbar zu machen, breitete ich meine Arme nach beiden Seiten weit aus und präsentierte Muno-Ak zwei leere Handflächen.
„Ich kenne dich, Claudius“, plärrte er mir entgegen. „Du verarschst mich, gibst mir den Rest und machst dich dann über mich lustig. So wie damals.“
„Du hast Probleme und wir sollten offen sprechen. Auch Dämonen brauchen hin und wieder etwas Hilfe.“
Der Dämon starrte mich nachdenklich an, legte Maries Stirn in Falten.
„Probleme? Ich habe keine Probleme.“
Jetzt war meine Zeit gekommen. Wenn ich ihn an seiner Ehre als Höllen-Männchen packte, sollte er sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen.
„Muno“, entgegnete ich gespielt ernst und mitfühlend, „du versteckst dein wahres ich. Wenn du gerne Frauenkörper anziehen möchtest, dann tu es einfach. Niemand wird dich dafür verurteilen. Aber wähle die Lebendigen, nicht die Untoten. Das gibt nur Ärger an allen Fronten.“
Für kurze Zeit blieb es still. Die Luft schien zu knistern, lud sich mit unnatürlicher Elektrizität auf, die nur dann zu spüren war, wenn ein Dämon sein brach liegendes Gehirn benutzte um nachzudenken. Selbst der Mond hatte sich hinter einer Wolke zurückgezogen, gespannt auf den kommenden Kampf zwischen Dämonenjäger und Höllenwesen.
Schließlich zeichnete sich etwas wie Erkennen in Maries wunderschönem Gesicht ab, das so gar nicht zu dem Wesen im Inneren passte. Ein gutes Beispiel dafür, dass wahre Schönheit nicht immer von innen kommen muss.
„Was hast du da gesagt? Wie redest du mit mir? Ich schlüpfe, in wen immer ich will! Das hat nichts, rein gar nichts damit zu tun, dass ich hin und wieder gerne in Stöckelschuhen durch die Gegend laufe! Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst, Mensch! Ich werde dich Respekt vor der Höllenbrut lehren, das lass dir gesagt sein!“
Mit voller Kraft stieß er den jungen Mann von sich. Seine Gliedmaßen und der gebrochene Arm wirbelten durch die Luft wie leblose Puppenarme. Dann klatschte er auf den Boden. Schwer atmend blieb er an Ort und Stelle liegen, zur Flucht fehlte dem armen Kerl einfach die Kraft.
Muno-Ak war dahingegen voll auf der Höhe. Mit gefletschten Hauern setzte er Maries Körper in Gang und schoss auf mich zu. Ich stellte mich in Pose, um sofort auf seinen Angriff reagieren zu können. Jeder Muskel meines Körpers erwartete einen heftigen Zusammenprall mit der besessenen Vampirin.
... aber diese Attacke folgte nicht. Im Gegenteil. Mit einem einzigen Satz sprang der Dämon über mich hinweg. Als er so durch die Luft flog, präsentierte er ein hämisches Grinsen, das nicht gerade zum Abbau meines Zorns beitrug.
Blitzschnell ergriff ich einen von Maries Knöcheln, machte eine äußerst elegante Drehung und ließ Muno-Ak hart auf den steinigen Untergrund krachen.
Ich versuchte ihn zu halten, wehrte Fänge und Krallen ab, während wir in inniger Umklammerung von einer Seite zur anderen rollten. Irgendwann lag der Mistkerl unter mir. Sein gestohlenes Äußeres konnte mich nicht daran hindern, mit den Fäusten auf ihn einzuprügeln. Gewalt an Frauen war mir ein Greuel, aber diese Hülle war keine echte Frau. Selbst wenn, wäre es ohnehin nur eine Untote gewesen.
„Wenn's sein muss, prügele ich dich aus diesem Körper heraus, verfluchter Dämon.“
Immer wieder traf ich Maries Kinn, war mir aber bewusst, dass nur Muno-Ak den Schmerz verspüren würde. Meine Geduldsfaden war endgültig durchtrennt. Zu wenig Schlaf, eine schlechte Auftragslage und jetzt auch noch der Handlanger eines Vampirs zu sein, trieben mich zum Äußersten, bis ...
Tja, bis mir eine Stimme von der Straße her etwas zubrüllte: „Sind Sie denn wahnsinnig geworden? Sie sollen meiner Geliebten den Dämon austreiben und sie nicht zu Brei schlagen!“
„Ihre Marie bekommt davon gar nichts mit“, gab ich zwischen den Schlägen zurück. „Ihre Wunden werden verheilt sein, noch bevor sie ihren Körper wieder in Besitz nehmen kann.“
Das sollte den Herzog beruhigen. Bedauerlicherweise war dieser längst nicht mehr in der Stimmung, mit mir eine Diskussion zu führen. Sein Angriff kam präzise und auch ein wenig unerwartet.
Schneller als das menschliche Auge eine Bewegung erfassen kann, kam von Liechen heran, packte mich und ich fühlte mich für einige Sekunden frei wie ein Vogel. Doch der äußerst schmerzhafte Aufprall nach einem Flug in hohem Bogen trieben mir solche Träumereien rasch aus. Schon war der Herzog über mir, zog mich an den Haaren wieder auf die Beine. Dann schlug er zu. Ich wehrte ab. Er trat. Ich wehrte ab.
Am Ende des kleinen Spiels wälzten wir beide uns nun am Boden. Marie schien vergessen. Hier kämpften die Urgewalten. Dämonenjäger gegen Vampir. Das klassische Duell. Trotz allem gab es hierbei einen Unterschied. Keiner von uns wollte den anderen ernsthaft verletzen oder gar töten.
Gerade als ich den Herzog an den Ohren zu packen kam und ihm in die Nasenspitze biss, meldete sich jemand zu Wort, den wir tatsächlich ganz und gar außer Acht gelassen hatten: Muno-Aks Schwiegermutter.
Sie peitschte mit ihrem Schweif unsere Wangen, so dass wir ihr volle Aufmerksamkeit schenkten. Selbstredend dachte weder ich, noch von Liechen daran, den anderen loszulassen.
„Ich störe euch Jungs ja ungern beim Spielen, aber da hat ein gewisser Jemand Fersengeld gegeben.“
„Verdammt“, stieß ich hervor. „Wenn Muno die Stadt erreicht, gibt es gewaltigen Ärger. Behörden, meine Konkurrenten - jeder wird versuchen, Ihre Frau zu töten, von Liechen! Mann, wir sollten lieber zusammenarbeiten, anstatt uns wie unreife Kinder aufzuführen.“
„Sie haben Recht. Verzeihen Sie, aber ich ...“
„Schon gut. Gehen sie einfach von mir runter und wir greifen uns den Mistkerl.“
Schon waren wir auf den Beinen und liefen Seite an Seite Richtung Stadt. Zwei Superhelden auf dem Weg zur alles entscheidenden Schlacht. Ha, der Schurke sollte nicht entkommen.
Ein greller Pfiff schnitt in unsere Ohren, wir drehten die Köpfe und sahen die Dämonin, die uns einfach nicht folgen wollte.